Auf Schatzfahrt. Roman.

30. Karge Satzfetzen

zehnter September, vor / auf Mittland

„Ostwärts von hier und bis nach Zenheim rauf gibt’s nur Steilküste“, bemerkte einer der Mannheimer, die inzwischen weitere Gespanne zum Strand hinuntergelenkt hatten und nun zimperlich die Schiffbrüchigen auf die Wagen betteten.

Wofür hielt der die Wand hinter sich? Perri ließ den Blick daran hinaufwandern, die hatte mindestens ihre zwanzig Spannen.

"Ein Glück", fuhr der Mannheimer fort, "daß der Stolze Mann gerade hier in der Bucht steht. Ich mein‘, wo die Hollermaid doch unbedingt auf ihn drauf wollte. Mit dem Kanu kommst du hier gut an Land, und nun lass mich vorbei.“

Der war gesprächig im Vergleich zu den wenigen anderen Dörflern, die ein Wort für Perri übriggehabt hatten. Die hielten sich an die Sprechweise der Zwerge, gaben allenfalls ‚karge Satzfetzen‘ von sich, wie Sem von Außen das nannte, und sie schienen die Leute von der Hollermaid nicht gern zu berühren. Hatten sie Angst, mit ihnen den Großen Durst in ihr Dorf zu tragen?

Mennesch. Offensichtlich litt keiner der Schiffbrüchigen am Durst, der im Übrigen auf anderem Wege kam, das wussten selbst Leute, die ihre Karren einer als Zugtier ungeeigneten Ziegenart anvertrauten. Knaben und Mädchen gingen neben den Gespannen die Serpentinen zum Dorf hinauf, brachten sie schreiend in die Spur zurück, wenn die Tiere Ausfälle unternahmen, als wollten sie die erreichte Höhe im freien Fall ausmessen. Die Ziegen hielten mit Lärm und Tobsucht dagegen, wenige Spannen weiter mussten sie überredet werden, ihre Last zu bewegen statt Kraut zu fressen.

Für Fragen hatten die jungen Hirten kein Ohr, bestenfalls gönnten sie ihm ein „Weiß der Geier“. Anderes Jungvolk machte sich mit Fackeln nützlich, wuselte wichtigtuerisch herum und beachtete ihn ebensowenig.

Perri gab es auf, Halbwüchsigen hinterherzurufen, baute sich auf vor dem einzigen Helfer ohne Karren mit meckernden Tieren. Das Rauschen der Frau sprach von verschiedenerlei Verwirrung und von fehlendem Schlaf, aber auch von Besonnenheit. Sie verwob aller Anstrengung zum Gelingen und tauchte im Übrigen immer dort auf, wo er gerade Kapitän Berrzaks Auftrag zu erfüllen versuchte. „Wie geht es Holler von Mittland?", fragte er, "Wo kann ich ihn sprechen?“

„Was für ein ‚Holler von Mittland’?“, gab sie unwirsch zurück. „Kommen etwa noch mehr?“

„Jenseitszeiten.“ Bei aller Geduld, das war zu viel. „Hör zu, Frau, wir haben eure Leute samt und sonders aus der Bucht geborgen. Ihr habt keinen Drobengang zu beklagen, aber in euch weilt keine Freude. Ich spüre hier weder Erleichterung, noch Willkommen für eure Landsleute, und auch keinen Dank. Tragt ihr Steine als Herzen? Euren Kapitän Holler meine ich, den Anführer dieser Mittlander Unglücksmannen.“

Die Frau hatte ihm in die Rede fallen wollen, dann aber zugehört. „Unglücksmannen.“ Sie rümpfte die Stupsnase. „Passt, so wie sie daliegen. Keins von diesen Rauschmustern habe ich je gespürt, niemand hier kennt sie, das sind keine Mittlander. Von ihrem Kapitän habe ich zuvor nie gehört, aber komm ihm nahe- Heda! Pass auf!"

Ihm nahekommen, genau das wollte Perri. Um Fragen zu stellen.

„Links vorne.“ Die Frau wies eins der Kinder an, Aststücke aus den Speichen eines Karrenrades zu entfernen, wandte sich ihm zu. "Aber komm diesem Kapitän nahe, sag ich, und du spürst, warum wir uns lieber fernhalten von ihm und seinen Männern.“

Ah so? „Aber der Turm“, begann Perri.

„Wir erkennen Landsleute, das weiß der Zenheimer Turm. Notruf Hollermaid, sagt er mir, Kapitän unbekannt. Rettung aus der Bucht erforderlich, sagt er noch, und ihr wärt schon fast da.

Aber es ist Erntezeit, die Leute sind kaum wachzukriegen. Ihr kommt von Kazon mit dem Schiffsverband, einige fürchten sich vorm großen Erntemeister, wollen euch fernbleiben. Kanns ihnen nicht verdenken, auch wenn es Mennesch ist, und wohin mit vierzehn Mann Besatzung mitten in der Nacht, sag mir das. Schau sie dir an, hier unten im Wind werden sie krank, sie brauchen Wärme und Ruhe. Und Bewachung, ich werd‘ dem Leutholer pfeifen und zwielichtige Seeleute mit unbekanntem Kapitän auf die Hütten unserer braven Dörfler verteilen. Und nun pack’ mit an, oder halt dich aus dem Weg, und lass meine Leute in Frieden. Nichts für ungut, Seemann.“

Perri sah sich den tiefen Atemzug an, der ihrer Rede folgte und die Flügel der niedlichen Nase einbog. Wortlos machte er kehrt und stapfte zu der Gruppe Männer, die bei den Booten lärmte. Zog den kreischenden Homme beiseite. „Was lacht ihr?“

„Kapitän Holler“, kiekste Homme, „falscher Name. Heißt Fraundöter.“

„Ha ho. Schaffts du es zur Dreimalstark?“ Nicht ganz einfach allein im Kanu, wenn eins erschöpft war.

Havariertes Lachen, Hommes Heiterkeit tat es der Hollermaid nach. „Klar doch.“

Lieber, lieber Homme, so empfindlich. „Kapitän Berrzak ist dort, gib ihm Bericht." Er sagte Homme, was Berrzak wissen musste. „Wenn du kannst, komm wieder.“ Er machte eine Geste zu den Matrosen hin, die nun aufmerksam schwiegen, schon nickten, bevor er weitersprach. „Wir packen hier mit an.“

„Kam eine Maid, so schön / Traf auf den Stolzen Mann.“ Die Liedermacher fassten das Unglück in Verse.

„Läutrerwerk mal nützlich.“ Perri wies zum Versammlungshaus, vor dem die Musikanten saßen, der mehrspannenlange Schatten seines Arms huschte über sie hinweg zum Anker-Schiff-Paar über dem Eingang. Einer der Trommler schaute auf, lächelte ins Licht der aufgehenden Sonne.

In dem Gebäude schliefen die Schiffbrüchigen, auf dem Platz davor dampfte über offenem Feuer ein mächtiger Pott, umringt von Seeleuten und Einheimischen. Der Kühle des frühen Septembermorgens musste begegnet werden, die Mannheimer hatten zum Grog eingeladen.

„War weder Sturm noch Wind“, sangen die Liedermacher, „Hing sich ihm trotzdem an.“

„Jedwedes Übel hat seine gute Seite“, sagte Pitt. „Sei froh drum, Läuterer findest du überall.“

„Außer wenns nottut, hab noch keinen gesichtet.“ Der Smut gesellte sich zu ihnen, gähnte, packte ein Tuchbündel auf die andere Schulter. Betrachtete den nahegelegenen Turm. „Von denen auch keinen.“

„Was hast du da drin?“, fragte Perri.

„Noch bevor dieser Tag endet, werdet ihr es wissen“, versicherte ihm der Smut. Sein gedämpftes Rauschen zeigte an, er sei zu müde für Erklärungen.

„Schätze, der Turm ist unbemannt“, meinte Pitt.

„Zerbrach ihr Maidentum“, sangen die Liedermacher, „die Schönheit wich dem Weh.“

„So nahe an der Kazon-Rabatz - Route?“, zweifelte Perri, „Sie werden mit dem Durst zu tun haben.“

„Stumm steht der Stolze Mann“, sangen die Liedermacher, „In der Holler Holler Holler See.“ Alle fielen ein, das ‚Holler‘ machte noch etwas länger die Runde.

„Perri von Kazon.“ Die Helferin, verschwitzt trotz der Morgenbrise, die Kleider verdreckt. „Danke dir und deinen Leuten. Bitte verzeih meine Grobheit letzte Nacht.“ Sie streckte ihm die Hand hin, ihre Augen tränten im stärker werdenden Sonnenlicht.

Perri schlug ein. „Dank zurück, Mara von Mittland. Erst deine Worte haben mir klargemacht, was nottut.“ Schönes Gefühl, ihre Hand zu halten, ihr ging es ebenso, sie verbarg es nicht. Er sah Pitt und den Smut einen Blick tauschen, spürte ihre Belustigung, es war ihm gleich.

„Perri, lieber Perri, du, ich muss in die Koje.“ Homme, in jeder Hand einen Grogpott, seine rotgeränderten Augen waren nur zum Teil dem Wind anzurechnen. „Sonst müsst ihr mich hinfahren.“ Er lächelte Mara an. „Im Ziegenkarren. Durch die Hollersee.“

„Holler Holler See!“, hub es wieder an ringsum.

Die Liedermacher ließen sich nicht groß bitten, begannen von vorne. „Kam eine Maid, so schön …“

Perri überwand ein Widerstreben, nickte Homme zu. „Wir brauchen alle Schlaf.“ Er dankte Mara im Namen aller für den Grog, ließ ihre Hand los, sie tauschten das Mögacht, er hieß Pitt die Leute sammeln. Begab sich eiligen Schrittes zum Pfad, der durch den kleinen Wald zur Klippe führte. Solange er hier noch etwas Ruhe hatte …

„Holler Holler Holler Weh!“ Kandas markante Stimme. Auf Berrzaks Anweisung hatte Perri ein Auge auf ihn gehabt, der Knabe war durchs Dorf gerannt wie vom Nück gezwickt. Ergebnislos, wie es schien, also hatte er sich an den Grog gehalten.

Der Smut und Pitt näherten sich. „Wo ist denn unser Mann von Kazon?“, lästerte Pitt.

Freund Pitt war nicht so müde, daß er keinen mehr spürte, der wollte spotten. Perri wartete, bis er in Sicht kam, trat zwischen den Sträuchern hervor, schnürte grinsend sein Hosenbändel.

Pitt blieb stehen. „Wie?!“

„Er war pinkeln, du Dösfisch.“ Der Smut rückte sein Bündel zurecht, schob ihn an. „Mach hin, mein Lager braucht mich.“

◊ ◊ ◊

Hast Besuch, sagte Jorrgen.

„Ja, bitte“, sagte Kapitän Berrzak zu Mastens Smutje, erhielt ein Lächeln zur Antwort, blickte auf seinen Teller. Dort dampfte bereits sein zweites ‚Bordpfännchen’, für ihn zubereitet nach Art der Kombüse. „Danke“, sagte Berrzak, „ich war geistig abwesend.“

Der Smutje nickte, vertraut mit dem Gebaren der Kom-Kapitäne. Und mit ihrem Appetit, Freund Masten verspeiste sein drittes Bordpfännchen, wie immer mit gepökeltem Schinken.

Berrzak hatte Masten lange nicht gesehen, hatte gefragt. Rein aus Neugier, ob Masten bezüglich des Fleischverzehrs noch immer dieselbe Antwort auftischte. Tat er: ‚Die Wichte, die das Fleisch anzieht, beruhige ich mit Omrak, gegen dessen Wirkung der Verzehr von Bordpfännchen hilft.‘

Berrzak hätte gern gewusst, ob auch Masten die Stimmen toter Freunde im Kom hörte. Doch ein Kapitän, der zur andern Insel ging, musste den Türmen gemeldet werden. Der kam zum Überprüfen in die Versuchsanstalten, samt dem, der ihn gemeldet hatte, auf daß da kein Schindluder getrieben wurde mit Falschmeldungen.

Das tat er weder sich noch Masten an. Ihm reichte die Prozedur nach Absolvieren der Pflichtstunden im Fänger, mit Kom-Werkern der Vaudekla an Bord und Kapitänsschülern, die ihm schichtweise als Kom-Stütze dienten, weil ein angehender Kapitän wissen musste, wie sich das anfühlte, und deren Wesensart er im Anschluss beschreiben musste, und-

Holla, Jorrgen hatte rechtgehabt. Einer von Mastens Matrosen nahte, sein Rauschen sagte, er wollte zu Berrzak. Masten schwieg, er fuhr sein Essen ein wie ein Heuwagen die Ernte. Der Vorgang des Mundfüllens hielt die Welt ein wenig auf Abstand, Berrzak kannte das so gut wie die anderen. Nur bei Selden schlug es gewaltig an, dabei verzichtete der auf Fleisch und Eier, und auf jegliches berauschende Getränk, selbst noch auf Dünnbier.

Der Matrose klopfte an die Kajütentür.

„Hemeim.“ Mampfender Masten.

„Kapitän Berrzak? Einer von deinen Leuten will dich allein sprechen“, sagte der Matrose.

Homme? Erschöpft war er gewesen beim Bericht, zu dem ihn Perri an Bord gesandt, aber auch entschlossen, seinen Mann zu stehen beim Unterbringen der Verunglückten. Berrzak hatte ihm das zugetraut und erlaubt, es wäre verwunderlich, der Knabe käme nun klagen.

Wie dem auch sei, die Dreimalstark bot Platz für Gäste. ‚Könnte wichtig sein, gibst du mir eine Kabine?‘ Unwillkürlich fragte er Masten im Schnackwinkel.

‚In den großen ist Platz für zwei am Tisch.‘ Das kam ohne Kopfnicken. Unterhielt sich eins zu lang ohne Worte, spürten es die Leute und nahmen es krumm. Zu seinem Matrosen sagte Masten laut: „Bring den Mann zu einer von den großen Passagierkabinen.“

Berrzak machte sich über das Essen her, spürte den Rufer, bevor die Schritte der beiden nahten. Kanda also.

‚Dein alter Freund?‘, fragte Masten. – Damit meinte er DennDīnn. ‚Nein, er will sich nicht zeigen.‘

Beim Übersetzen war Berrzak am Stolzen Mann ein seltsamer Ausläufer aufgefallen. Im Näherpaddeln hatte er DennDīnns Rauschmuster gespürt, ihn gesehen erst wenige Spannen vor dem Felsbrocken, auf dem er hockte, einen Deckel auf dem Kopf, wie der Smut sie trug. Drunta nahm eins nicht wahr, wenn sie das nicht wollten.

‚Wie immer‘, merkte Masten an. ‚Könnte uns was erzählen als Klabautergast der Hollermaid.‘‚Konnten uns nicht lange austauschen. Er kommt mit nach Rabazon, dort wird sich was ergeben.‘‚Ist recht, solang er bei dir klabautert. Kanda und der Matrose gingen übers Großdeck. Dieseit. Der dich sprechen will, ist keine Kom-Stütze. Was bringt er auf mein Schiff?'

‚Schätze, er sagts mir gleich.‘ Berrzak gewährte Masten Einblick in sein Wissen über Kanda und den Rufer, ungefiltert durch Sprache und ohne Zeitverlust, wie es nur im Schnackwinkel möglich war.

Masten schmatzte, Berrzak wusste, er meinte nicht das Essen. So, wie sein Smutje schaute, wusste auch der es. ‚Zwergenkram, obskuminöser‘, fügte Masten an.

Die letzte Gabel voll, nochmal mit dem Rest Brot durch. „Bedankt für den Nachtspan.“ Berrzak erhob sich, nickte dem Smutje zu.

„Droben kommts wieder, Freund Berrzak.“ Masten hob die Hand zum Gruß.

Die Nachtluft trug den Duft des Waldes mit sich. Berrzak waren bereits freistehende Einzelbäume nicht geheuer ab einer gewissen Höhe, dort oben hockten etliche beisammen wie eine ortsfeste Schafherde. Sturmfest waren sie nicht, am Fuß der Klippe mengte sich Jungholz ins Treibholz. Trotzdem, ein Hain in der Burgzinnenbucht wäre-

„Kapitän Berrzak.“ Kanda schaute ihm aus der Tür der Zweimannkabine entgegen, Schmerz, Trunkenheit und Angst im Rauschen. „Bitte verrat mich nicht.“

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