29. Müde Maiden
Zehnter September, vor / auf Mittland
Kanda klammerte sich fest. Die Beleuchtung kam jetzt von der Dreimalstark, verwirrende Schatten umspielten ihn, und vor ihm summte aufdringlich der Mast.
Vom Kom-Werker hatte er nur Anweisungen erhalten bis ‚es soweit ist‘. Keine Rede davon, was danach kam, aber beim Anblick des verunglückten Schiffes hatte er sofort den Verstärker stillgemacht. Daß sich das so grässlich anfühlen würde ...
Als sie ein Ruf von Kapitän Berrzak aufs Deck befahl, hatte Kanda gewartet, bis Perri rausgeklettert war, hatte den Verstärker in eine Lücke zwischen Mast und Boden des Krähennests gerammt. Um den kümmerte er sich später. Er schaute nach unten, das Deck der Hundebunt kam ihm sehr klein vor. Und weit entfernt. Und es hielt nicht still.
So wurde das nichts. Er dachte an die alte Platane daheim, letzten Herbst war er kurz vorm großen Sturm in den Gipfel gestiegen. Hatte den dicken kranken Ast mit Leinen gesichert, abgesägt, runtergelassen, hatte Mams Hühner samt Stall gerettet. Vor lauter Freude hatte sie gleich mal zwei geköpft.
Mit dem Grinsen kam sein Selbstvertrauen zurück, er machte sich an den Abstieg im ungewohnten Licht. Auf dem Deck blieb er stehen, hörte Kapitäns Berrzaks Stimme schallen, sah einem Schimmer zu, der über die Planken lief. Das war das Leben. Ein Baum lebte weiter im geernteten Holz, als Tisch, als Trommelstock, als Schiff, das wusste er schon lang. So deutlich gesehen hatte er es noch nie. Schön war das.
Pitt kam. „Alles klar mit dir? Befehl verstanden?“
„Eh …“
„Wir paddeln zur Hollermaid“, sagte Pitt, „Homme mit dem Smut, du mit mir. Also komm.“
Wie im Traum enterte Kanda über die Bordwand ab in das kippelige Kanu, schaffte es, sich ohne Zwischenfall im Bug niederzulassen. Sein Hirn rummste rhythmisch gegen den Schädelknochen.
Von hier unten sah die Hollermaid aus, als sei sie ins Droben aufgestiegen, nur um herunterfallen und sich backbords die lange mittlere Felsnadel vom Stolzen Mann in die Bordwand rammen zu können. Selbst durch diese zertrümmerten Planken strömte noch Leben, ebenso im lächerlich dünnen Schaft des Riemens zwischen seinen Fäusten.
Bumm, sagte sein Denken, Bumm – Bumm – Bumm. Der Schlaggeber. Er legte den seltsamen, viel zu zerbrechlichen Riemen auf den Bootsrand, wollte den Schaft hochdrücken, sich zurückneigen, rutschte ab.
Jenseitszeiten. Das war kein Riemen, das war ein verholtes Paddel. Aber er hatte doch den Schlaggeber …? – Nur in der Denkstube. Er saß in einem Kanu, seine Zeit bei den Läuterern war abgedient.
„Steck das neben dir ins Wasser“, sagte hinter ihm Pitt, “dann zieh dich dran vorbei.“
Das kam so trocken, als wüsste der Bescheid. „Eh, ja.“ Er griff mit der Rechten andersrum zu, legte los. Paddler hatte er wohl genug gesehen, die fuhren vorwärts. „Wie geht das mit dem Lenken?“
„Gesteuert wird im Heck. Bist du bei dir?“
„Klar“, versicherte Kanda, zu Pitt umgewandt. „Mir ist bloß was schummrig, kommt vom Fieber.“ Dieser verholte Verstärker, er benahm sich wie ein Vaudi.
Na, nicht mehr lang. Keine Toten, hatte Kapitän Berrzak gesagt. Wenn der Kom-Werker nichts abbekommen hatte, wozu dann warten auf Kazon und das feuchte Kellerloch. Das Kom konnte der doch hier fertigmachen. Sicher war auch das nur eine Frage des Münzbeutels, da ließ sich Kanda was einfallen, oder er fragte Menden. Sein Teil des Auftrags war erfüllt, er konnte nichts dafür, daß sich die Hollermaid auf den Stolzen Mann gesetzt hatte.
„Sie hatten nicht mal Zeit für die Boote“, schrie Homme hinter ihnen, seine Stimme piepsig in der Nacht. Die Antwort vom Koch war nicht zu verstehen.
Schnell fand sich Kanda in einen Rhythmus, Paddeln war einfach. Je näher sie der Hollermaid kamen, desto mehr Gestalten konnte er ausmachen. Vier, fünf, sieben, sie hielten sich an Treibgut fest, an den Felsen. Acht, neun, zehn, keiner rief, keiner winkte. Auf die Entfernung erkannte er niemanden am Rauschen, das ging schlechter denn je, seit er das halbfertige Kapitäns-Kom trug.
„Ich kann voraus nicht klären“, rief Pitt, „bist fast so breit wie ich. Siehst du einen Salzwasser saufen?“
„Die mucksen sich nicht.“
„Was? Ich hör dich nicht, wenn du nach vorne flüsterst.“
Kanda antwortete über die Schulter. „Von denen hat keiner den Großen Durst.“ Er schaute wieder auf die Seeleute, die hilflos im flachen, nicht auffallend kalten Wasser trieben. Der Wind war kälter. Die begriffen nicht mal, wie nah der Strand lag.
Träumte er am Ende wirklich? Er spähte zur dunklen Masse der Steilküste. Oben zuckten Lichter durch Sträucher, erhellten Baumkronen, an der Wuchsgestalt erkannte er eine Linde. Mittland hatte sich seinen Wald erhalten. Wandernde Fackeln zeigten den Abstieg zum Strand, bestimmt hatten die Dorfleute unten Boote liegen. Aber was kamen die jetzt erst runter, Stunden nach dem Notruf.
Hinter ihnen begann Homme zu schnattern, der kannte wohl jemanden.
„Mögacht“, rief nun auch Pitt.
„Mögacht.“ Ein Kanu von der Dreimalstark kam längsseits. „Enne Geschichte. Wie kriegst du die an Bord.“ Der meinte das nicht als Frage.
„An den Strand mit ihnen“, sagte Pitt, der andere wendete. „Geht’s besser, Kanda?“, fragte Pitt. „Kommst du klar beim Bergen?“
Kanda wandte sich um. „Klar.“ Pitt war eine Silhouette vorm Strahler der Dreimalstark. Drüben, in einer Lichtinsel neben dem Stolzen Mann, fiel Kapitän Berrzak dem Smut in die Arme. Also träumte er wirklich, der Smut saß mit Homme im Kanu.
◊ ◊ ◊
Die Bordwand sackte ab, Wasser schwappte herein. „Homme“, sagte Pitt. „Dein Steuermann kanns allein nicht ausgleichen, wenn du nachgibst.“ Den Knaben verließen die Kräfte, während die halbe Sprotte von Koch die Kanus stabil hielt, als täte er nie was anderes.
„Hast dich gut gehalten“, sagte der Smut zu Homme, „den schaffen wir auch noch.“
„Ja.“ Homme drückte wieder aufs Paddel, das quer über den Bordwänden beider Kanus lag.
Pitt tauschte einen Blick mit Kanda. „Hepp!“ Der Matrose ließ sich ins Boot hieven wie eine Puppe, mit nassem Sand gefüllt.
Fünf seiner Kameraden hatten sie auf diese Weise zum Strand geschafft, nach dem vergeblichen Versuch, sie wie gekenterte Paddler neben dem Kanu mitzuziehen. Diese Leute halfen nicht, hielten sich nicht am Bootsrand fest, schwammen nicht, stellten sich nicht auf die Füße, wenn sie Grund fassen konnten.
Vor ihm schwang Kanda das Paddel ohne Zeichen von Ermüdung, der hatte sich rasch erholt. Die Zopffrisur, zu der ihm Homme verholfen, ließ sein Knabengesicht männlich wirken im Strahlerschein. Ein Bild von einem Seemann ohne Fehl. Sem von Außen hatte das mit seinem Blick bestätigt, im Bunten Hund, an Kimraks Ende.
Pitt konnte den Fremden nun verstehen, konnte es auch Homme nachfühlen, selbst den Mädchen, die sich von Kanda hatten umgarnen lassen. Mit dieser Anziehungskraft, mit diesem unbewussten Ausstrahlen einer unerschütterlichen, keineswegs vorhandenen Aufrichtigkeit hätte der Knabe das Zeug zum Großläutrermeister, wäre sein Rauschen stark. Auch wenn seine Stimme nur gut klang, nicht die Begabung zeigte.
Die Matrosen der Dreimalstark warteten schon am Ufer, Pitt gab dem Kanu Schwung, sie zogen es auf den Sand. „Danke.“
„Droben kommts wieder.“
Neben ihnen knirschten Homme und der Smut ans Ufer, gemeinsam trugen sie den Verunglückten zu seinen Kameraden.
„Haben wir alle?“, fragte Pitt in die Runde.
„Mit eurem sinds vierzehn“, bestätigte einer von Kapitän Mastens Männern, „alle aus dem Wasser gezogen, keiner konnte schwimmen. Die Mannheimer haben ihren Strand abgesucht, niemanden gefunden. Kennt ihr wen?“
„Bisher nicht.“
„Schau mir mal an, wen ihr so alles gerettet habt.“ Kanda machte sich davon.
Auch Pitt schritt die Geretteten ab, mit Homme und dem Koch. Kein bekanntes Gesicht, kein vertrautes Rauschmuster.
Der Kapitän trug noch immer den Schwimmreifen. Schwierig, ihn davon zu befreien, er umklammerte ihn und war nicht ansprechbar. Seine Leute lagen im Sand, zitterten im Wind, ließen sich in Decken packen. Baten um nichts, starrten vor sich hin. Immerhin besser, als wenn sie nach Wasser schrien oder zum Saufen ins Meer kriechen wollten. Drei von ihnen trugen Verletzungen, doch die waren älter als das Unglück.
Die Leute aus Mannheim benahmen sich nicht weniger wunderlich als die Verunglückten. Ein Helfer, vier erwachsene Dorfbewohner. Kein Heiler, dafür mehrere Kinder. Alle wirkten ein wenig verwirrt, wie aus dem Schlaf gerissen. Auf einer Schiebekarre hatten sie Wolldecken, Frischwasser und Fackeln hergeschafft, versorgten schweigend und ungerührt ihre Landsleute. Keiner der Schiffbrüchigen wurde getröstet oder auch nur angesprochen.
Die Vaudekla hatten Weisung erteilt, die Besatzung der Hollermaid vorerst ins Dorf zu bringen. Das mussten diese Mannheimer doch wissen, wollten sie mit nur einer Karre die vierzehn Mann dort hochschaffen?
Pitt zuckte die Schultern. Wenn sie Unterstützung brauchten, würden sie sich melden, er folgte Homme und dem Koch zu den Kanus. Aus einem ließ ein Matrose von der Dreimalstark die Beine hängen.
Homme kratzte sich mit beiden Händen unterm Zopf. „Das sind seltsame Leute.“ Er sah müde aus und blass, aber besser als nach dem Wecken um Mitternacht.
„Die müden Maiden? Oder die mürrischen Mannheimer?“ Der Mann von der Dreimalstark stach bei jedem ‚M’ mit dem Finger in die Luft.
„Alle“, lächelte Pitt. „Und wir sind die mutigen Matrosen.“
„Die von der Maid sehen aus wie nach dem Verzehr von reichlich Pilzen der Sorte, die Bilder im Kopf macht“, befand der Smut. „Was treibt unser Baumgärtner?“
„Schaut sich müde Maiden an.“ Pitt sah sich nach Kanda um, entdeckte ihn auf dem Weg ins Dorf hinauf. „Vielleicht auch die Dorfmaiden.“ Er wandte sich wieder den Matrosen zu. „Wie hat der sagenhafte Kapitän dies Stück vollbracht?“
„Sagenhaft?“, fragte der im Kanu. „Wir hatten ihn. Er ist unverletzt, aber im Kom hinüber. Kennt den eins?“
„Ich weiß von Kapitän Holler nichts als seinen Namen“, sagte Pitt, „aber nachdem er es geschafft hat, seine Maid auf den Stolzen Mann zu praktizieren, wird sein Ruhm wohl bald ein sagenhafter sein.“
Alle Mann durchliefen seinen Satz.
Der flinkste grinste. „Hat die Maid zur Frau gemacht.“
„Hat ihn ihr reingerammt.“ – „Nie in all meinen Jahren auf See …“ – „Was wirft ein Mutterschiff? Beiboote?“ – „Da war wohl erst der Omrak leck.“ – "… ist mir sowas ennes begegnet." – „Oder eben Pilze.“ – „Gibt’s die beim Heiler?“
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Geschrei und Gelächter drangen zur Dreimalstark, Überdrehtheit erfolgreicher Retter. Kapitän Berrzak hatte Perri zur Küste beordert, um auch bildlich gesprochen Licht ins Geschehen zu bringen. Dann hatte er übergesetzt.
„Bei Kapitän Holler steckt was im Kom“, stellte Freund Masten fest. „Seine Mannschaft ist bloß sturzbetrunken.“ Kandas Rufen erwähnte er nicht.
„Ich kann seine Kennung nicht lesen“, sagte Berrzak.
„Macht mir Schmerzen im Kopf“, nickte Masten, „und ich seh’ sie sowas wie doppelt. Hier waren obskuminöse Kräfte am Werk.“ Treffende Umschreibung.
„Kapitän Masten.“ Einer der Männer, die auf Mastens Anweisung das Wrack untersucht hatten.
„Sprich“, sagte Masten.
„Ein Pirat“, sagte der Mann. "Wir sind rangepaddelt, gemach zuerst, falls noch was kommt. War aber bald klar, die Hollermaid sitzt da bis später droben, oder doch so lange, bis ein wirklich schwerer Sturm sie wieder runterholt. Vorausgesetzt, die Läuterer sind nicht schneller.“
Die Läuterer hatten sich vor langer Zeit zu einem ringweiten Erstbergerecht verholfen. Nach ihrer Auffassung brachte die Anwesenheit ungeläuterter, schwerer Seelen ein Schiff zum Kentern, lange noch lauerten Leutholers Scharen in der Nähe der Unglücksstelle. Nur reine Läutrerseelen konnten Wracks gefahrlos bergen.
„Sie hockt“, schloss Mastens Mann seinen Bericht, „auf dem Felsen wie drumherumgebaut. Sowas Ennes hab’ ich noch niemals nicht gesehen, und von meinen Männern auch keiner.“
„Wieso Pirat?“
„Hab’ zwei Mann raufgeschickt. Brauchten nicht mal Lampen, hing alles noch fein dran, nur enn schief. Steigen die also rauf, und was finden sie? Klar zum Angriff die guten alten Enterhaken. Und Planken, und Brandfackeln, und als sie in den Laderaum kieken, treiben da Kisten mit der Aufschrift Holzmacher. Bin rauf und habs mir selber angesehen. Sag ich zu meinen Männern, sag ich, das war mal ihr Name, oder ich heiß Ennen.“