8. Dunkle Wege
Siebter September, Kazon
„Klar soweit?“ Der Kom-Werker schaute ihn fragend an.
Kanda gönnte ihm ein Nicken, wissend und gelassen. So gut er das hinbekam, frisch behandelt auf der Liege.
„Wenn du entdeckt wirst, fliegt alles auf“, sagte der Kom-Werker. „Also reiß dich zusammen und fass nicht ständig hin.“ Im Sitzen streckte er das rechte Bein aus, hob den linken Arm, dann andersrum. Einmal war er vor den Übungen aufgestanden, sofort wieder umgefallen. Angeblich rauschte er nach seiner Arbeit noch eine Zeitlang mit dem Kunden. „Das wird schon, bald geht es dir besser.“
„Wenn du das sagst.“ Kanda richtete sich auf, schaffte es, sich nicht sofort an die Rübe zu tatschen.
Bei den ersten Treffen hatte er eine Menge Fragen gestellt, bevor er den Kom-Werker an sich rangelassen hatte. Schließlich war der ein Ringmann, keiner vom Vaudekla-Clan, aber er hatte immer alles parat und blieb ruhig dabei. Kanda hatte sogar ein paar Zusammenhänge klargekriegt, obwohl der Kom-Werker sprach wie alle Leute, die sich über Büchern krümmten, statt mit anzupacken wie ein Mann. Schlappquallen, denen der Leib anschwoll vom Rumsitzen, die sich noch was drauf einbildeten.
„Wenn alles hinhaut mit deinem Auftrag, komm wieder, dann mache ich das hier fertig.“ Hände in den Nacken, der Kom-Werker reckte sich im Sitzen. „Danach bist du wie ein Kapitän, kannst dir ein Schiff kaufen von deinem Anteil.“
Lüge oder Wahrheit? Zwecklos, Kanda kriegte es nicht zu fassen. Vergebens die Hoffnung, Besuche beim Kom-Werker könnten ohne weiteres Zutun sein Rauschen stärken.
Es störte ihn nicht sonderlich. Vor Jahren schon war ihm ganz ohne Rauschen klargeworden, daß er besser im alten Schuppen pennte, wenn Pap abends in der Allee herumfiel und Leute anpöbelte. Wenn Mam was ausgefressen hatte, ihn vorführen wollte, um Pap von sich abzulenken.
Im Schuppen selbst half ihm die klemmende Tür, sobald die Angeln krachten und jemand fluchte, kroch er durch das Loch in der Seitenwand. Im Sommer tobten manchmal die Siebenschläfer, jagten ihn im Halbschlaf nach draußen. Besser als andersrum.
Wer die Leute nicht spürte, musste sie beobachten. Bei manchen brauchte er Jahre, um dahinterzukommen, womit er sie sich vom Leib halten konnte, darin unterschieden sie sich wie Pflanzen.
Wagte sich Löwenzahn in den Schaurasen des Inselverwalters, genügte es, die Pflanzen vor der Blüte auszustechen. Quecken grub eins am besten sofort samt Wurzel aus, und wer die Waldrebe für schwachwüchsig hielt, weil die Schere so leicht hindurchging, schlug sich später mit ihren endlosen Lianen herum.
Am übelsten getrietzt hatten ihn die vier Kläffsen, die sich seine Schwestern nannten, dabei hatte er gelernt- Gewirbel im Augenwinkel, neben ihm tippte der Kom-Werker die Daumen abwechselnd mit den Fingern der jeweils anderen Hand an. Kanda wurde schummrig vom Hinsehen.
„Du wirst mich mehrmals besuchen müssen“, sagte der Kom-Werker, „und Menden wird nicht länger aufkommen dafür.“
Zeit für eine Fangfrage. „Und wenn mein Rauschen doch zu schwach ist?“
„Ich mache es stark nach Belieben, deinen freudigen Einsatz an Ringmünzen vorausgesetzt. Kannst sagen, die Menge entspricht der Qualität meiner Arbeit.“
Der Spruch kam immer, musste wohl stimmen. „Schön, aber machs richtig. Ich geh’ auf keine verholten Kapitänsschulen.“
Dazu schwieg der Kom-Werker, mit einer Miene, wie sie Kanda aufsetzte, wenn er den Erdrechen wie seit der Beule vor fünfzehn Jahren richtigrum hinlegte, und von Pap trotzdem kam: ‚Zinken nach unten‘.
Die Kapitänsschulen staken Kanda quer wegen seiner Kennziffer. Wenn andere sie hersagten, wirkten Vaudekla kurz abwesend und nickten dann. ‚Sie gleichen sie mit deinem Rauschmuster ab und sichten die Einträge‘, hatte der Kom-Werker gesagt. ‚Stells dir vor wie die Seite eines Logbuchs.‘
Damit kannte sich Kanda aus, hatte als Halbspannenhoch einen Korb Äpfel und Paps bestes Okuliermesser gegen Temmes Schatzbeschreibung getauscht. Und gegen die ersten schlimmen Prügel seines Lebens.
Die rausgerissene Logbuchseite war echt, aber sie stammte weder von Temme, noch von der Huldelund. Kanda besaß sie noch, und beim Sichten seines Kennziffer-Logbuchs versanken die vom Clan in Schweigen. Er konnte nicht lesen, aber am liebsten würde er es sich abschreiben lassen, seinen größten Erfolg in roter Tinte: dreihundert Ringe.
Für die erste hatte es vierzig gegeben, die hatte er brav abgeliefert, war nicht mal drauf gekommen, den Vorschuss für sich zu nehmen. Inzwischen wusste er, was Janna wollte, brachte ihnen was bei. Mit der letzten hatte es sich gut angelassen, ohne Menden hätte er mit Kandela was deichseln können bis im Herbst. Nun ging die Fahrt vor.
„Ist dir schlecht, oder belastest du ein diesbezüglich nicht verschwenderisch ausgestattetes Zentrum mit hochkomplizierten Denkaufgaben?“
„Und selbst?“ Das hatte er von Pap. ‚Den kennst du nicht?‘ schnaubte der, wenn ihn wer nach einem Baum fragte, dessen Gärtnername er sich aus dem Wachverstand gesoffen hatte. Stunden später, nicht selten beim Abendessen, schmetterte er etwas wie ‚Samtfruchtiger Honigdorn!‘, stierte selbstzufrieden in die Runde, und Mam ließ wieder alles fallen und kriegte keine Luft vor Lachen.
„Na?“ Spöttischer Blick zum Kom-Werker.
Der lächelte. „Bleib noch ein wenig sitzen, Kom-Werk ist eine große Belastung. Schwarzen?“
„Von mir aus.“ Betreffs Belastung, Dösfischen wie Homme konnte er seine Abwesenheit als Kleine Fahrt verkaufen. Doch in Wahrheit belastete diese Geschichte seine Kennziffer. „Ich hab an die vom Clan gedacht, in den Kapitänsschulen haben die mich sofort auf dem Kieker.“
„Vergiss die Kapitänsschulen, samt Kom-Begabung.“ Der Kom-Werker löffelte Schwarzmischung in zwei Becher. „Die Vaudekla verbreiten das, damit nur Kapitän wird, wer ihnen passt. Sie mögen keine Freien, die können sie nicht am Gängelband führen. Frag Menden, der muss es wissen.“ Er nahm den Wasserkessel vom Ofen, der in diesem Kellerloch schon im September bullerte. „Hör zu, das ist Vaudekla-Geheimwissen. Du spielst den Stummfisch, klar soweit? Keine Namen, kein Geplauder. Denk dran, ich bin an Bord des Schiffes, das dich rausholt.“
Hatte da einer Angst? Kanda schwieg, bis er seinen Schwarzen hatte, schenkte dem Kom-Werker über den Becherrand weg eine Kostprobe seines undurchdringlichen Blicks. Der Effekt ging flöten, weil er zu früh vom Setz-Aufguss trank, sich einen abhustete und zugleich dermaßen über sich selber lachen musste, daß es ihn zurück auf die Liege haute.
Davon ging es ihm so dreckig, daß er aufs Lager neben dem Ofen durfte. Der Kom-Werker wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, half ihm rüber und unter die Decken, zog sich den Stuhl heran. „Dein Lachen ist ansteckend, wie eine Gabe.“
„Habs von Mam.“ Sprechen ging, er erzählte, wie sie Pap damit von Holzland weggelockt hatte. Wäre Pap geblieben, er hätte sich längst eine Prunkhütte gebaut mit seiner Altvorderenreihe von Reckdenwalds, anderswo genannt ‚Baumgärtner‘.
Aber Pap hatte lieber in Mams Heimat eine Gärtnerei mit Baumschule gegründet, hatte der Stadt eine Allee und einige wohlplatzierte Solitärs geschenkt. Denen in ersten Jahren niemand Wasser brachte, weil die Kazondger ihm nicht glaubten, daß junge Bäume gegossen werden wollten.
Etliche davon hatte er aus Sturheit und einer Dürre wegen mehrmals ersetzt, sich dabei übernommen und schließlich dem Suff ergeben. Nicht zuletzt, weil Mam fett wurde, mehr keifte als zu lachen und ihm hintereinander vier Töchter aufhalste, wofür sie ihm die Schuld gab. Soviel zur Gabe des Lachens.
„Aber Paps Bäume und Geschäfte gedeihen, seit es genug regnet.“ Kanda sah dem Kom-Werker beim Snickern zu, trank vom Schwarzen, den er für ihn durchgeseiht hatte. Zeit für die nächste Fangfrage. „Wenn es Kom-Begabung nicht gibt, kann mir dann ein Kapitän draufkommen?“ Natürlich, musste die Antwort lauten. Denn Kapitäne wurden so stark gebaut, wie sie dafür zahlten.
Der Kom-Werker bekam sein Arbeitsgesicht, stand auf, fütterte den Ofen. „Eine Patrouille hat dich sofort am Wickel, Kapitänen verrät dich nur dein Geschwätz. Niemand erträgt ein so empfindliches Kom, er würde zur andern Insel gehen davon. Verhielte sich das anders, meine Arbeit an dir wäre sinnlos. Für die üblichen Rauscher ist sie nicht erfassbar, es kommt dir nur so vor, als müsse jeder spüren, was du in dir trägst. Da musst du durch, von nichts kommt nichts.“
„Und dann kommts dicke.“ Temmes Schatz nämlich, zu dem er demnächst eine Freifahrt antrat, dank Menden Hübschgesicht und Homme Frauenschön.
Der Kom-Werker nickte. „Sieh zu, daß du an Deck bist, wenn es soweit ist, am besten als Ausguck. Hier, der Verstärker. Den trägst du fortan immer bei dir, er ist so wichtig wie du selbst. Versuchs mal mit dem Aufstehen, geh ein paar Schritte. – Gut, jetzt ohne Abstützen. – Wunderbar. Lass uns das Mögacht tauschen, ich hab zu tun.“
Ganz schön früh finster draußen. Dunkle Wege im Regen, hier und da zeigte schwaches Glühen, wo sich Hauswände befanden. Den Leuchtern ging es dreckig seit Kimrak, und doch hielten sie durch. Kanda nahm sich ein Beispiel an ihnen, lavierte durch die Gassen, so schnell er konnte.
Wenn er jeden Abend bei Homme auflief, musste er Sascha und Kandela nicht abwimmeln, zugleich nahm es anderen die Gelegenheit, sich einzuschleimen. Bei Homme, der glaubte, Freunde träfen sich jeden Tag, also meine es gut mit ihm, wer ständig angerannt kam. Bei aller Dösfischigkeit war Homme ein lieber Kerl, der ebenfalls anders rauschte als die meisten. Sascha hatte gestanden, sie finde Homme inzwischen ‚ziemlich süß‘ und wolle ihn nicht länger anlügen. Dazu hatte sich Kanda was einfallen lassen.
Homme würde sich wundern, wenn er ihn so sah. Sommergrippe, das taugte als Ausrede. Die kam plötzlich, mit Fieber. Ihm war noch immer ein wenig schwindlig, und sein linkes Ohr glühte. Oder war es das rechte? Vielleicht blinkten sie, und dazwischen hockte sein Schädel wie ein überreifer Apfel, mit Gängen, in denen Würmer fraßen.
So ging das also, wenn eins Kapitän wurde. Kein Wunder, daß die schon als Kinder beim Clan verschwanden. ‚Sei froh, daß der Ooslander auf sich warten lässt‘, hatte der Kom-Werker gesagt. ‚Je langsamer ich arbeite, desto besser fühlst du dich. Schmerzen wirst du keine haben.‘ Wehgetan hatte es wirklich nicht, nicht so richtig, aber …
Er fand kein Wort dafür, suchte nach dem Verstärker in der geräumigen Hosentasche, betastete ihn, hörte Stimmen, zog sich in eine Tordurchfahrt zurück. Im Hof dahinter strahlte eine fast ausgestorbene Leuchterfarbe, zeichnete eine Fensteröffnung nach. Die Konturen verwischten im Strömen des Wolkenbruchs.
Leuchterpflege, wie das Baumgärtnern eine seltene Kunst, er beherrschte beide. Konnte den Anblick nicht genießen, das Blau waberte durch seinen Schädel, färbte die Würmer um. Jenseitszeiten. Schlackernde Knie, er stützte sich am Torflügel ab, der knarrte leise.
Hundeelend. Wie nach seiner ersten Flasche Schwarzer Staub. Das gab noch Ärger daheim, wenn Mam was mitkriegte. Aber Mam glaubte ihn mit Pap auf Sonderschicht, und Pap lag längst unter seiner bevorzugten Hecke. Geköpfte Fichten, die hielten die Nässe ab. Harzduft, weiche Kuhle in alten Nadeln …
„Fünfzig. Fünfzig. Fünf-“
„Hör auf.“
„…zig. Ich muss zählen. Ich bin Kapitän Berrgar. Fünfzig. Einundfünfzig.“
„Ein Vaudi bist du.“
Die hellen Stimmen verhandelten über Prügel, das brachte ihn zu sich. Kinder auf dem Weg zur Spätschule, und er döste nicht unter Paps Fichten. Der Duft kam aus dem Hof, dort genoss eine Kiefer den Regen.
Der Streit wurde leiser, beim Weitergehen streifte er mit einer Hand die Hauswände, musste sich nicht wieder abfangen. So dunkel war es gar nicht, es dämmerte erst. Zu früh für Paps Sonderschicht bei den Nachtschattengewächsen, so giftig, daß sie nur bei Kerzenschein geschnitten werden konnten.
Eine von Paps Finten, in die Kanda sich teilte, in sowas war der Alte gut. Mam kam nicht dahinter, daß sie Nachtschattengewächse in der Küche verwendete.
Brauergasse, er bog ein. Im Haus von Pap Perri wurde ebenfalls Spätschule gehalten, die Altmam erzählte was.
Mam Perri stand in der Tür, sah ihm entgegen, es gab starke Rauscher, die ließen es raushängen. „Du kommst spät heute. Geht es dir nicht gut?“ Sie duftete nach Kuchen, musterte sein linkes Ohr.
„Pap.“ Mehr war nicht nötig. Er schenkte sich die Sommergrippe, flüchtete zur Kellertür vor ihrem Mitgefühl, machte sich an den Abstieg in die Küfereigewölbe.
Pap wagte sich schon seit langem nicht mehr an ihn heran, Mam Perri würde hinter die Wahrheit kommen, wenn er sich von ihr betüdeln ließ. Aber sie buk besser als Mam. Kanda seufzte. Manchmal log er zu schnell.
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Der Kom-Werker schüttelte das Laken aus, breitete es über sein Lager, griff sich die Decke. Der Knabe hatte jeden Mennesch gefragt, nur nicht nach einer Kennung. Ohne die ließ ihn ein Schiffs-Kom nicht mal an Bord. Des weiteren schätzte er Menden falsch ein, der würde ihn keineswegs aufpicken und nach Hause bringen.
Er zog die Decke glatt überm Laken, steckte beides fest. Es gab noch mehr, von dem der Knabe nichts wusste, ihn schlau zu machen war nicht seine Aufgabe.
Hätte so werden können. Die Gärtnersippschaft saß gut im Nest, und sie machte einem gern Augen. Abweisung in drei Fällen, die vierte hatte er nicht gefragt.